In Ägypten reiben sich in diesen Tagen die einen beim Auszählen der Stimmen in den Wahllokalen die Hände (die letzte Runde der Parlamentswahlen findet am Dienstag, den 10. und Mittwoch, den 11. Januar statt), die anderen müssen den bitteren Kelch bis zur Neige leeren.
Auch wenn es noch ein paar restliche Sitze zu verteilen gibt, so steht doch schon fest, dass die Islamisten etwa zwei Drittel der Sitze im Parlament bekommen werden: die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbrüder führt bei weitem, gefolgt von den Salafisten.
Da sie sich der Beunruhigung bewusst sind, die ihr haushoher Sieg hier und dort hervorruft, legen die Muslimbrüder immer mehr versöhnliche Gesten an den Tag. Die höchsten Führer gingen sogar zur Weihnachtsmesse der koptischen Christen (am 7. Januar) in die Kathedrale von Kairo. Sie haben immer wieder betont, dass sie keine politische Kraft von der Versammlung ausschließen werden, die die neue Verfassung schreiben wird. Auch die Liberalen nicht.
Doch die haben mittlerweile ganz andere Sorgen: im Schatten des Prozesses von Hosni Mubarak (der Staatsanwalt hat für die „Morde an den Demonstranten“ die Höchststrafe gefordert) fürchten sich ihre Chefs nach der Wahlniederlage nun auch vor der Justiz.
Der koptische Milliardär Naguib Sawiris, Telekom-Magnat und Gründer der laizistischen Partei Freier Ägypter wird zum Beispiel wegen „Gotteslästerung“ gerichtlich verfolgt, weil er im vergangenen Juni in seinem Twitter-Account eine Karikatur veröffentlicht hat, auf der ein bärtiger Mickey und eine verschleierte Minnie zu sehen waren. Dazu ein Kommentar, der als Warnung zu verstehen war: „So sieht die Zukunft Ägyptens aus.“
Bild: Twitter-Account @NaguibSawiris
Ayman Nour, der bei den Präsidentschaftswahlen 2005 den zweiten Platz gemacht hatte und der Buhmann des Regimes von Mubarak war, wird nun beschuldigt, bei den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Militär und Revolutionären vor dem Parlament im letzten Monat zur Gewalt angestiftet zu haben.
Dasselbe wird auch dem Blogger Alaa Abdel-Fatah vorgeworfen, der bei dem von der Armee an den koptischen Demonstranten verübten Massaker im letzten Herbst eine Schlüsselfigur der Protestbewegung war. Er ist am 25. Dezember freigelassen geworden.
Viele strafrechtliche Verfolgungen, die für die Betroffenen und auch für die Beobachter den Anschein einer Abrechnung erwecken.
Ein Interview mit Naguib Sawiris (Spiegel online)
Der Fall Alaa Abdel-Fatah (Amnesty international)
Wahlen in Ägypten – Verfolgen Sie unser Blogger-Duo Tangi Salaün und Ahmed El Lozy
Tangi Salaün, 39 alt und in der Bretagne geboren, ist Journalist. Er wohnt seit 15 Jahren in Kairo und berichtet für Le Figaro, L’Express und RTL, aber auch für Le Temps (Genève) und Le Soir (Bruxelles). Er ist ebenfalls Co-Autor von zwei Büchern, L’Egypte de Tahrir (Le Seuil, Mai 2011) mit der Journalistin Claude Guibal, und Egypte, les débuts de la liberté (Michel Lafon, Oktober 2011) mit der ägyptischen Bloggerin Shahinaz Abdel Salam.